Vorsichtsmaßnahmen - eine Kurzgeschichte

 

„Was sind das für Leute“, fragte sich der alte Schneider, „wollen die was von mir?“ Vom Küchentisch aus sah er vor seinem Gartentor zwei Männer in weißen Schutzanzügen, die gerade einem grauen Transporter entstiegen und sich nun Masken und Handschuhe überstülpten. Der Größere der beiden klingelte.  

Paul Schneider legte die Tageszeitung aus der Hand und stand vom Tisch auf. Als er nach dem Stock griff, fiel der zu Boden. Es klingelte zum zweiten Male. 

„Immer mit der Ruhe. Ein alter Mann ist kein D-Zug“, murmelte er. Genervt setzte er sich wieder und zog mit dem rechten Fuß seine Gehhilfe zu sich heran. Während er sich bückte, hielt er sich mit der linken Hand an der Tischkante fest. Es klingelte erneut, diesmal länger und ungeduldiger. 

„Das ist doch allerhand! Wat mutt, dat mutt.“ Er griff nach dem Stock, stellte ihn senkrecht auf und erhob sich schwerfällig. Vom Küchentisch bis zur Haustür waren es nur noch ein paar Schritte durch den Flur. Hinterm schmalen Milchglasfenster, das mit einem Messinggitter bewehrt war, sah Paul Schneider einen unförmigen Schatten. Schneider schloss auf und erschrak. Die zwei Männer in den weißen Schutzanzügen waren größer, als von der Küche aus zu erkennen gewesen war. Unter den Plastikvisieren trugen sie zusätzlich Brillen, hinter denen ihre Augen verborgen blieben. 

„Guten Tag, Herr Schneider. Sie sind doch Paul Schneider?“ Der Angesprochene nickte verstört.

„Wir sind vom Gesundheitsamt.“ Der Kleinere von beiden hielt kurz einen Ausweis hoch und steckte ihn schnell wieder ein. Ehe Paul Schneider nachfragen konnte, fuhr der Große fort: „Wir sind autorisiert, Ihr Haus zu überprüfen. Vorsichtsmaßnahmen. Die Corona-Pandemie macht vor keinem Halt.“ Herr Schneider nickte bestätigend. 

„Dürfen wir reinkommen?“ Der Hausherr schlurfte beiseite. Die beiden Männer gingen an ihm vorbei und blieben in der Mitte des Flures stehen. Einer hielt ein kleines, flaches Gerät in die Höhe, das wie ein Smartphone aussah. Er sagte: „Hier ist dicke Luft. Sie wissen doch, dass täglich mehrmals gelüftet werden muss, am besten wäre Durchzug!“ Paul Schneider blickte betreten zu Boden. Er beeilte sich zu sagen: „Rechts ist die Küche.“ 

Die Beamten gingen voraus. Paul Schneider hatte zu tun, ihnen zu folgen. Der Kleinere der beiden öffnete den Abfalleimer neben der Spüle und schaute hinein. Er schüttelte den Kopf. 

„Wann haben Sie den zum letzten Mal geleert? Das muss man doch jeden Tag machen, sonst bilden sich Bakterien! Lesen Sie keine Zeitung?“ 

Herr Schneider schämte sich. „Doch, aber ich war noch nicht so weit. Seitdem meine Frau nicht mehr ist, muss ich alles allein machen. Das dauert.“

„Na, wer weiß, worauf wir noch stoßen. Ich seh‘ schon: Da, der eklige Abwaschlappen! Entsorgen oder mit 100 Grad waschen!“ 

Herr Schneider war verzweifelt. Tränen standen ihm in den Augen. 

„Nun nehmen Sie sich das nicht gleich so sehr zu Herzen. Wir wollen Sie doch bloß vor einer Ansteckung mit Corona bewahren. Da müssen schon bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden.“ Herr Schneider nickte mehrmals bejahend. 

„Wir müssen uns beeilen. Es gibt noch mehr zu tun. Am besten wäre es, wenn wir uns aufteilen, dann werden wir schneller fertig. Setzen Sie sich ruhig wieder. Wir machen das schon“, meinte der Größere von beiden. 

Erleichtert sagte Herr Schneider: „Am Ende des Flures ist das Wohnzimmer, links daneben das Bad. Ins Schlafzimmer geht es die Treppe hoch und dann rechts. Im Kinderzimmer geradeaus ist ewig niemand gewesen.“ 

Die vermummten Beamten verließen eilig die Küche. Herr Schneider setzte sich erschöpft auf den Stuhl, von dem er vor einer Viertelstunde aufgestanden war. Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. Kalt und bitter rann ihm sein Lieblingsgetränk den Rachen hinunter. Er hörte die Männer vom Gesundheitsamt wirtschaften. Dann vernahm er ein leises Flüstern und das Klappen der Haustür. Einer der Beamten, der Größere, betrat die Küche, lehnte sich an die Tür und achtete darauf, dass Paul Schneider ihn unablässig anblickte, mit dem Rücken zum Fenster. Streng wurde der Alte darüber belehrt, wie er sich in Zukunft zu verhalten habe, damit er während der Corona-Pandemie jederzeit vor Ansteckung gewappnet sei. Es drohe überall Gefahr, auch im Haus. Während Herr Schneider dem an der Küchentür Stehenden eingeschüchtert zuhörte, verstaute der andere Gesundheitsbeamte inzwischen im Transporter einen mit Geldscheinen prall gefüllten Plastikbeutel. 

Der Teppich im Wohnzimmer wurde vorsichtshalber exakt wieder so hingelegt, wie man ihn vorgefunden hatte.